Ich bin der Meinung, daß es schwierig ist, die Vorteile und Nachteile so sauber voneinander zu trennen. Meist handelt es sich schlicht um Unterschiede, die in einem Fall als Vorteil, im anderen als Nachteil empfunden werden können, je nach künstlerischer Intention. Daher finde ich es auch fragwürdig, daß Du den Aspekt "Kunst" raushalten möchtest, da er zumindest in gewissen Anteilen, immer ein Faktor bei der Malerei ist.
Dennoch versuche ich mal, es nach Deiner Unterteilung zu beantworten:
Vorteile:
1. Verschiedene Formen der Flexibilität. Man kann das Format jederzeit ändern. Man kann durch das Arbeiten mit Ebenen Bildteile ein- und ausblenden, sie skalieren, rotieren, verzerren usw. Siehe die Optionen des "Transform"-Tools in Photoshop. Man kann sehr schnell die Farbideen abändern. Ein Bild, daß in einem Blau-Ocker-Farbklang angelegt wurde, kann mit ein paar Klicks in einen Grün-Purpur-Akkord verwandelt werden. Die verschiedenen Farbauftragsmodi können zu jedem Zeitpunkt nach gusto angewendet werden. Gerade das Arbeiten mit Masken, Kanälen und Pfaden sorgt dafür, daß es ein "Geht nicht" aus Zeitpunktgründen nicht gibt. Zur Veranschaulichung: Wenn ich in einem Ölbild (Landschaft) einen weichen Verlauf naß in naß für einen Himmel angelegt habe, ist es später schwierig, darein jetzt noch punktuell Wolken zu malen, die sich harmonisch einfügen. Die Farbschicht ist nach der Trocknung gewissermaßen "zu". Male ich in diesen Himmelsverlauf nun eine Wolke und entscheide mich später, diese Wolke sei eigentlich zu groß - dann habe ich ein Problem, weil ich den hinter dieser Wolke liegenden weichen Verlauf nun wieder hinzumalen müßte. Was praktisch unmöglich ist.
In der Digitalen Malerei kein Problem: Entweder ich male die Wolken auf einen eigenen Layer, oder ich dubliziere die Ebene mit dem Himmelsverlauf, um sie im Falle eines Mißlingens der Wolken einfach wieder unversehrt laden zu können.
Aus dieser Flexibilität resultiert, daß man sich viel mehr "traut" - weil die Angst fehlt, etwas schon halbwegs gut Gemaltes mit Experimenten zu verschandeln.
2. Arbeitsgeschwindigkeit. Per Fülleimer kriege ich ruckzuck eine beliebig große Fläche "voll". Ein Farbverlauf ist eine Sache von zwe, drei Klicks - für sowas braucht man in der Acryl- oder Ölmalerei schon mal ein paar Stunden. Das langwierige Anmischen der gewünschten Farbtöne entfällt. Der Colorpicker ist Dein bester Freund.
Das langwierige Übertragen von Vorzeichnungen, insbesondere wenn diese skaliert werden müssen, ist simpel. Sie können nach Belieben eingeblendet werden, im Overlay-Modus mit entsprechend eingestellter Deckung auch immer präsent sein, selbst, wenn man sie ersteinmal übermalt. Die sorgfältige Vorzeichnung, welche ja erstmal von den Entwurfszeichnungen her übertragen werden muß, braucht bei meinen Ölbildern häufig mehrere Tage!
Änderungen sind ein Klacks. Ich male eine Figur, habe sie schon detailliert ausgearbeitet - und bin plötzlich der Ansicht, sie müsse ihren Arm einen Tick weiter abwinkeln. Mit dem Lasso- und Transformtool ist die Änderung schnell erledigt, in der analogen Malweise muß ich eventuell das ganze Bild nochmal malen.
3. Verfügbarkeit und Duplizierbarkeit. Gerade bei Auftragsarbeiten und für Illustrationsjobs ein schlagendes Argument. Zwischenschritte können schnell an unterschiedliche "Entscheider" übermittelt werden. Unterschiedliche Versionen eines Bildes können gespeichert werden, um wesentlich später im Schaffensprozeß nochmal auf sie zugreifen zu können. Entsprechend gestaltet es sich einfacher, Feedback von Auftraggebern zu erhalten, Änderungen nach ihren Vorgaben vorzunehmen und mehrere Leute einzubinden in den Entstehungsprozeß. Da keine Verluste enstehen beim Duplizieren, sind anschauliche Kommentare inklusive Änderungsvorschlägen durch Overpaints möglich. Kopien ohne jeglichen Qualitätsverlust sind in jeder gewünschten Menge quasi kostenlos machbar.
4. Einsparung von Materialkosten. Papier, Keilrahmen, Öl- oder Aquarellfarben, Pinsel, Leinwand, haufenweise Werkzeuge vom Tacker über die Spannzange bis zum Gummihammer - nichts davon wird für die digitale Malerei gebraucht. Zwar steht dem die Anschaffung der u.U. recht kostenspieligen Hard- und Software gegenüber - aber zumindest prinzipiell gibt's später keine Kosten durch Materialverbrauch. Mehr Bilder kosten materialmäßig nicht mehr, was dazu führt, daß jeder neuen Bildidee nachgegangen werden kann, ohne im Hinterkopf immer den Warn-Teufel schimpfen zu hören: "Das Aquarellblatt hat zwei Euro gekostet! Willst Du das mit zwei schnell hingerotzten Pinselstrichen vollsauen und dann in die Tonne kloppen?"
5. Die Verwenden sämtlicher digitalisierbarer Vorlagen, das Zusammenschnipseln im Sinne einer Collage ist möglich. Fotos können nahtlos in ein Bild eingebunden werden usw..
6. Unempfindlichkeit gegenüber Beschädigungen. Vorausgesetzt, man hat mehrere Backups oder sein Bild im Internet hochgeladen, kann es nicht mehr kaputt gehen, sei es durch Wasserschäden, durch Zerkratzen, Eingedelltwerden beim Transport etc. Manche meiner Ölgemälde hängen bei Wetterumschwüngen durch, weil die Leinwand aufgrund der Luftfeuchtigkeitsänderungen arbeitet...
7. Körperliche Entlastung. Ein kleines Aquarell ist auf einem handelsüblichen Aquarellblock schnell hingepinselt. Ein großformatiges Ölgemälde dagegen... Ab Bildhöhen jenseits der zwei Meter braucht der Maler einen Hocker zum Malen. Oder am besten gleich eine Trittleiter. Dann wird die Staffellei hin- und hergezogen, hoch und runtergekurbelt. Rauf auf die Leiter, drei PInselstriche, runter von der Leiter, Abstand nehmen, um die Wirkung abschätzen zu können, wieder rauf auf die Leiter und so weiter und so fort. Bei der digitalen Malerei sitzt man gemütlich vor seinem Grafiktablett, den Kaffee oder Tee immer in Griffweite. A propos Kaffee: Viele analoge Malmittel können gesundheitsgefährdent sein. Das reicht von den giftigen und Kopfschmerzen verursachenden Lösungsmitteln bis zu den staubenden und u.U. hochgiftigen Pigmenten: Bleiweiß, Cadmiumfarben, das berüchtigte Schweinfurter Grün (welches allerdings schon lange verboten ist). Sebst beim großzügigsten Auftragen von Farbe kann beim digitalen Malen kein Tropfen in die Augen geraten...
8. Keine Platzprobleme. Grafiktablett, Monitor, Rechner - ein ordinärer Schreibtisch-Arbeitsplatz reicht aus für alle Formate. Beim analogen Malen braucht man Stauplatz für die fertigen Bilder und ein den Formaten angemessenes Atelier. Wenn ich in meinem alten Atelier mal großformatige Querformate malte, fiel das Licht trotz der großen Nordlicht-Fenster über die vier Meter des Bildes schon so sehr ab, daß ein Blau, daß ich links auftrug, doppelt so hell wirkte wie wenn ich es rechts auftrug. Die Ateliermiete verschlingt den Löwenanteil meiner Kosten für das analoge Malen.
Nachteile:
1. Keine Materialität. Ein digitales Bild hat keine Oberfläche, höchstens eine gefakte Entsprechung. Es ist glatt, ihm fehlen sämtliche haptischen Qualitäten. Jeder Pixel ist genau so, wie er ist - echte Unterschiede zwischen Opakheit und Transparenz gibt es nicht. In der modernen Malerei ist aber das Material die Hälfte der ganzen Angelegenheit: Ein Emil Schumacher, ein Georg Baselitz, ein Anselm Kiefer, ein Fontana oder auch ein Monet - ihre Bilder sind ohne die Materialeigentschaften überhaupt nicht denkbar. Es geht in der analogen Malerei immer auch um die Oberfläche: Wie "steht" ein Strich auf dem Papier, wie schichten sich die Farben auf der Leinwand? Das bewußte Verletzen der Malfläche (Fontana, auch Munch, der seine Bilder nach draussen stellte, um sie vom Wetter gerben zu lassen) ist ebenso ein künstlerischer Vorgang wie der bewußte Einsatz ungwöhnlicher Materialien (Dreck, Sand, Diamantstaub, Blut, Urin, ätzende Säuren usw.). Alles "organisch Wirkende" im digitalen Bild ist immer Fake und Augentäuschung.
2. Mit Punkt 1 Hand in Hand einhergehend: Fehlender Objektcharakter. Das digitale Bild ist kein Körper im Raum. Ihm fehlt die dritte Dimension nicht nur, was die direkte Bildoberfläche angeht. Auch der skulpturale Charakter fehlt völlig. Die Übergänge zwischen analoger Malerei und Bildhauerei/Objektkunst sind ja fließend, man denke z.B. an die Collagen eines Rauschenberg, an die Seidenkissen eines Gotthard Graubner, an die Bilder von Anselm Kiefer... Der räumliche Bezug von Bildern (Fresken, Fußbodenmosaike, Einbindung von Tafelbildern in Altäre usw.) ist beim digitalen Bild nicht möglich, bzw. noch nicht üblich. Denkbar schon, Bill Gates träumt ja schon von den Monitor-Zimmerwänden usw. - aber da sind wir dann schon nah dran an der Videoinstallation.
3. Einhergehend mit Punkt3: die fehlende "Aura" im Sinne Walter Benjamins. Siehe hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Kunstw ... ierbarkeit
Dieser Nachteil läßt sich anhand des Kaufverhaltens von Kunstsammlern erahnen. Wer kauft schon gern ein Bild, welches verlustfrei reproduzierbar ist? Die Einmaligkeit des analogen Bildes macht für den Kunden oft erst dessen Wert aus.
4. Die mangelnde "Führung durch das Material". Die riesige Freiheit, die das digitale Malen bietet, kann auch zu einer Richtungslosigkeit, zu einer Kopflosigkeit beim Malen führen. Das analoge Malmaterial gibt gewissermaßen Regieanweisungen: Im Aquarell muß man von hell nach dunkel malen, beim Ölbild von trocken zu naß. Wenn alle Wege nach Rom führen, aber man sich noch nicht mal sicher ist, ob man überhaupt nach Rom möchte, fängt an jeder Abzweigung das Zweifeln an. Man kann sich in der Featuereitis verlaufen, sich ewig mit Nebensächlichkeiten wie dem Erstellen neuer Brush-Spitzen aufhalten.
Die Beschränkung durch die Materialvorgaben kann in der analogen Malerei zu neuen Bildlösungen inspirieren: Wenn ich nur den Aquarellkasten habe, dann muß ich mir was einfallen lassen, wenn ich einen "Dunklen Herrscher auf Dunklem Thron" darstellen möchte. Mal eben einen schwarzen Malgrund aufziehen und in den dann ein paar hell glühende Augen und einige wenige Lichtreflexe hineinpinseln geht nicht, weil nicht von dunkel nach hell gearbeitet werden kann. Ich bin also u.U. gezwungen, meine Standard-Bildlösungen, die mir zu einem Thema einfallen, zu ignorieren, und komme so eventuell zu wesentlich originelleren Ideen. Die unbeschränkte Freiheit und Flexibilität der digitalen Malerei kann eben auch negativ empfunden werden, bzw. nicht genügend "Reibung" bieten, um zu ungewöhnlichen Bildideen zu inspirieren.
5. Keine Zufallseffekte. Natürlich gibt es jede Menge eingebaute Zufallseffekte in der digitalen Malerei. Aber das sind halt "künstliche" Zufälle, für die man sich vorher entscheiden muß. Man kann jeden einzelnen Zufallsparamenter separat einstellen... Heraus kommen solche tollen Effekte wie der Einsatz des Smudge-Tools als chaotischer Stempel und Strukturengenerator, wie Daniel ihn entwickelt hat. Die Zufälle, die vom analogen Material generiert werden, sind anderer Art. Rauheit der Leinwand, Zusammensetzung der Haare im Pinsel, Klumpen im Malmittel, chemische Reaktionen der Malmaterialien... Das sind andersgeartete Zufälle als die "künstlichen Zufälle" der digitalen Malerei. Was man bevorzugt, ist letzten Endes Geschmackssache, wer die analogen Zufallseffekte bevorzugt, der vermißt sie halt in der DM.
6. Fehlendes sinnliches Erlebnis. Der Geruch, das haptische Gefühl, die Bewegungen - analoge Malerei ist eine durchaus körperliche Angelegenheit. Man kann die Leinwand mit Pinselhieben traktieren, man kann die Farbe mit sanften Fingerstrichen vertreiben. Man kann aus dem Handgelenk, aus dem ganzen Arm, aus dem Oberkörper heraus die Striche setzen. Man kann das Material kneten und schlagen, auswalzen und abkratzen, man kann schütten und bröseln, schaben und auswaschen, tropfen und klopfen, drücken und zerfasern. Wenn man Malerei als einen gesamtheitlichen Prozeß begreift, statt nur einen auf das fertige Bild gerichteten Zweck, dann fehlt einem etwas in der digitalen Malerei. Zenbuddhistische Konzentration auf die Pinselspitze beim Hinsetzen kalligraphischer Tuschezeichen braucht das ganze Drumherum. Das Grafiktablett fühlt sich immer gleich an...
7. Limitierung durch technologische Voraussetzungen. Man braucht Strom.
Man braucht einen Monitor usw. Ein kleines Skizzenbuch mit Bleistift ist doch noch etwas flexibler zu transportieren als ein Laptop. Dies ist natürlich wohl kaum ein dauerhafter Einwand, irgendwann werden wir wohl dahin kommen, daß man auf IPhone-ähnlichen Kleinstkomputern auch malen kann. Aber noch sind wir nicht so weit.
Der Anschaffungspreis für Computer und digitale Malgeräte ist nicht gerade niedrig, insbesondere gute Software (Photoshop, Painter) ist z.T. schweineteuer. Da kein Mensch soviele Backups macht, wie man eigentlich machen sollte, dräut immer auch der Datenverlust durch Totalabstürze und defekte Hardware. Das gleiche gilt freilich auch für Skizzenblöcke, die in die Badewanne fallen oder in Brand geraten können, oder für Bilder, die einfach aufgrund sich lockernder Nägel von der Wand plumpsen und dabei zerreißen können... Ich habe aber schon mehr Bilder durch versehentliches Löschen und Überschreiben verloren, als durch Atelierbrände.
8.Man kann digitale Bilder nicht von zwei Seiten bemalen.
Alter: 40 Jahre
Tätigkeit: Maler
Homepage usw. siehe unten.
Es genügt nicht, keine Meinung zu haben. Man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken.